Das Inventar eines Buchbinders

von Andreas Garitz

Das Inventar eines Buchbinders, der aus Schlesien vertrieben Ende der 50er Jahre aus der Ostzone nach Westdeutschland flüchtete, steht hier exemplarisch für vergessene Arbeitswelten. Die manuellen Tätigkeiten eines Sattlers, Polsterers, Gürtlers, Kürschners, Gerbers oder eben wie hier eines Buchbinders sind den meisten Menschen heute nicht mehr vertraut, vieles ist gänzlich unbekannt und vergessen. Waren die Gewerke früher in sehr klar voneinander abgegrenzte Tätigkeits-und Produktfelder unterteilt und die Handwerker in ihren Bereichen diejenigen, die als Spezialisten und einzig kompetente Anlaufpartner galten, so hat die moderne Produktionsweise dies durch meist minderwertigere, dafür aber schneller und kostengünstiger zu produzierende Artikel ersetzt, die auch von Laien und Ungelernten in arbeitsteiligen Fabriken hergestellt werden konnten. Andere Arbeitsfelder verschwanden in neue und weit entfernte Märkte, klassisch gegerbtes Leder kommt heutzutage aus Indien oder China, wo es wesentlich billiger hergestellt werden kann, die Textilproduktion samt Schneider-, Näh- und Färbearbeiten ist in viele Billiglohnländern der Welt verlagert.

Was es bedeutet, eine Ware von Grund auf bis hin zu ihrem Verkauf im eigenen Ladengeschäft in vielen Arbeitsschritten in eigener Arbeit anzufertigen, kann man heute in vielen Fällen nur noch erahnen und muss museal mühsam rekonstruiert werden. Das Zupfen, Glätten oder Aufbrechen von Roßhaar, Stroh, Werg und Watte, das Zuschneiden, Verarbeiten und Vernähen von schweren Stoffen, Leder, Pappe, Filz, Kunststoff und Segeltuch, das Füllen, Stopfen und Festklopfen von Polstern, das Aufnähen des Polsterkissens auf den Federkern, das Aufnageln von Stoff oder Leder auf den Holzrahmen eines Sessels, der oft vom benachbarten Schreiner stammte, das alles sind die Arbeitsschritte eine Polsterer, der einen auf lange Haltbarkeit ausgelegten Sessel herstellt.

Heute Artikel noch auf die gleiche Art und Weise anzufertigen wäre schlicht unmöglich. Der Preiskampf, der gestiegene Konsumanspruch bei gleichzeitig immer kürzer werdenden Nutzungszeiten der Produkte und die schnellen und kostenoptimierten Produktionsverfahren machen Preise, die dem tatsächlichen Stundenaufwand eines Handwerkes entsprechen würden, unmöglich. Schon in den 1950er und 60er Jahren mussten viele Handwerker zu großen Teilen von Reparaturen leben, weil Neuwaren immer weniger gefragt wurden. Waren das bei den Polsterern zunächst hauptsächlich noch Ausbesserungsarbeiten an Schultaschen, schwerer Kleidung, landwirtschaftlicher Ausrüstung oder an den Transmissionsriemen der Fabriken, so fielen bei ihnen und in in anderen Gewerken zu ihrem Ärger zunehmend auch Reparaturen von minderwertigen Fremdwaren an, die ihre Kunden zuvor bei der ungeliebten Konkurrenz der großen Kaufhäuser eingekauft hatten. Waren, deren zunehmend kunststoffliche Beschaffenheit und minderwertige Verarbeitung ihrem Arbeitsethos und ihrem Verständnis von ordentlicher Arbeit zutiefst widersprachen.

Das hier gezeigte Inventar des Buchbinders kann die Komplexität alter, handwerklicher Arbeitswelten nicht wiedergeben, aber die wenigen Exponate zeigen etwas von der Vorstellung, die ein Handwerker von seiner Arbeit hatte. Die in den 1950er und frühen 1960er Jahren im Ruhestand für die eigene Familie angefertigten Bücher, Kisten und Mappen sind trotz ihrer Einfachheit und ihrem profanen Zweck mit akribischer Sorgfalt ausgeführt. Der Mangel an finanziellen und materiellen Mitteln und die Beschränkung auf einfachste Werkstoffe hat den Urheber nicht daran gehindert, sauber und ordentlich zu arbeiten und seine Waren mit einer lange Lebensdauer auszustatten. Man sieht förmlich die Lust an der Arbeit und erahnt die besondere Wertschätzung von Material und Arbeitsgerät.

Quelle und Exponate: Augsburger Gedönsmuseum.

Exponate

Falzbein

Bein (Knochen), 12 cm. Für jeden Handwerker gab es in der Regel ein besonderes Werkzeug, das besonders gut in der Hand lag und an das man gewohnt war und dem oft eine ganz besondere Bedeutung zukam. Dieses Falzbein (zum Ziehen von Linien und Markierungen in Leder und andere Materialien, sowie zum Falzen von Papier und Pappe) besaß der Handwerker seit seit seine frühesten Handwerkerzeit. Er nahm es auf seiner Flucht mit bis nach Westdeutschland.

Pappschachteln

Mit buntem Papier bezogene Pappschachtel, Arbeit für die Familie.

Schere, Falzbein und Arbeitsbuch

Weitere selbstgemachte Pappschachtel, in der sich die Lieblingsschere, besagtes Falzbein und das Arbeitsbuch befanden.

Arbeitsbuch

Das Arbeitsbuch (vom zwischenzeitlichen Wohn- und Arbeitsort in der DDR), das den Handwerker und seinen Werdegang, sowie seine damals aktuelle Verortung festhielt.   

Fluchtkoffer und Fotoalben

In diesem Koffer brachte der Handwerker sein Hab und Gut in den Westen, darin verwahrte seine Tochter später die von ihm selbst gefertigten und gebundenen Fotoalben, in die sie Bilder aus ihre Jugend und von ihrer Hochzeit einklebte.

Verschnürbare Mappen

Verschnürbare Mappen, DIN A4, Pappe, Papier, Leinen, Arbeit für die Familie.

Gebundene Bücher

Vom Buchbinder für die Familie gebundene Readers Digest Bände, 1960er Jahre.

Gebundene Bücher, Innenansicht

Arbeit für die Familie, 1960er Jahre.

Pappschachtel

Mit Papier bezogene Pappschachtel, Arbeit für die Familie. Die Schachtel wird bis heute benutzt und hat etwas gelitten.

Pappschachtel mit Arbeitsbuch

Mit Papier bezogene Pappschachtel, Arbeit für die Familie. Aufbewahrungsort für Falzbein, Schere und Arbeitsbuch (siehe oben).